Liebeserklärung einer Leserin – Ein Leser:innenbrief

Liebe Zeitungsente,

ich muss es dir endlich schreiben: Ich liebe es, dich zu lesen. Wann immer
du herauskommst, kann ich gar nicht abwarten, deine Seiten zu streicheln, dein
Papier zu riechen und in deinen Artikeln zu versinken. Ich habe mir angewöhnt,
vor deinem Erscheinen vor dem Zeitungsstand zu übernachten. Der Besitzer kennt
mich bereits und versorgt mich inzwischen mit heißem Kakao am Morgen. Wenn ich
dann eine Ausgabe in den Händen halte, setze ich mich dort auf den Bürgersteig
und beginne zu lesen. Manchmal muss man sich selbst mit kleinen Hobbys Gutes
tun und für mich ist das, deine neueste druckfrische Ausgabe sofort ganz
durchzulesen, so lange, wie es eben dauert. Von dir über die Welt zu hören, ist
ein erhebendes Gefühl in meinen Adern. Ich spüre geradezu, wie du mich mit
deinen Artikeln an die Hand nimmst und durch unser schönes Universum führst, so
seltsam es auch manchmal erscheinen mag. Ich lese dich natürlich nicht nur
dieses eine Mal, nein, ich nehme dich mit nach Hause und lege dich auf den
Tisch und zwinge! mich, dem schnöden Alltag meine Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Aber lange kann ich nicht an mich halten und wieder verliere ich mich in deinem
Glanz und halte deine Seiten an meine Brust. Ach, die Zeit bis zu deinem
nächsten Erscheinen ist immer so schwer für mich! Ich nehme mir vor, geduldig
zu sein, und die Ausgabe, die ich habe, aufzusparen. Ich will nach jeder
geschafften Aufgabe nur einen deiner Artikel lesen. Aber dann wird der Drang zu
groß und wieder lese ich für Stunden in dir. Noch lange bevor die nächste
Ausgabe erscheint, kenne ich alle Artikel auswendig. Aber das macht mir gar
nichts! Es freut mich, dich so praktisch in mir zu tragen. Es läge mir fern,
von dir zu verlangen, öfter zu erscheinen, nur um meinen Lesehunger zu stillen.
Wo doch die Autor:innen eine so glänzende Arbeit leisten. Um mich zufrieden zu
stellen, müssten sie ja an einen Tisch gefesselt werden, um nichts anderes zu
tun, als zu schreiben, und das dürfte ihnen niemals zugemutet werden. Ich habe
keinen Liebling unter deinen Autor:innen. Ich könnte mir nur wünschen, eines
Tages in der Gegenwart solcher Weisheit und Wortgewandtheit zu sein. Für ihre
Kunst sollten sie von der Öffentlichkeit mit Preisen und Reichtum überschüttet
werden, vor jede Tür, durch die sie treten, sollte ein roter Teppich ausgerollt
werden und sie sollten auf einem Thron sitzen, damit wir Ahnungslosen vor ihnen
niederknien können. Aber so ist die Welt nicht. Trotzdem bin ich nicht bitter.
Das Licht, das du, Zeitungsente, in meinem Leben bist, genügt mir vollkommen. Sei
dir meine immerwährende Liebe und Treue versichert.

Deine,

Walpurga

 

 

 

 

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