Die Saga der gefallenen Engel
Eine düster-morbide Neo-Noir-Romanreihe von Sophie Lindenthal
Band I – Der Schattenkanzler
Auszug aus dem ersten Kapitel

Weiß-graue Staubwolken stiegen unter seinen eleganten, schwarz polierten Lederschuhen auf, während der Schattenkanzler in der Dämmerung über den Kiesweg auf das schmiedeeiserne Eingangstor zum düsteren Garten der schwarzen Villa schritt. Sein schwarzes Sakko und sein sorgfältig frisiertes Haar schimmerten im Schein der flackernden Laternen, die den Weg säumten.
Der Schattenkanzler war zufrieden mit sich. Nach den zahlreichen Jahren in der offiziellen Politik konnte er nun endlich das Vorhaben, das er seit Beginn seiner Karriere gehegt hatte, in die Tat umsetzten; er und ein düsterer Zirkel an sorgfältig ausgewählten Abgeordneten würden heute Abend auf die inoffizielle und schwarze Seite der Politik übersetzten, von der aus sie die Staatsgeschicke unbemerkt zu lenken und nach eigenen Gutdünken zu beeinflussen gedachten.
Nicht, dass der Schattenkanzler mit seinen bisherigen Errungenschaften unzufrieden gewesen wäre – er blickte, trotz seines jungen Alters, auf eine erfolgreiche Laufbahn im offiziellen Politikmilieu zurück. Er hatte Wahlen gewonnen, Zahlen verringert, Routen geschlossen, Umfragen manipuliert und Steuergelder politisiert; wahrlich, er hatte eine strahlende Karriere in dieser Sphäre hinter sich.
Doch über die Jahre war er der vielen Restriktionen, welche die ‚weiße Politik‘, wie er sie vorzugsweise nannte, mit sich brachte, immer überdrüssiger geworden, bis er zu dem Schluss gekommen war, dass genug nun genug sei und dass es an der Zeit wäre, eine Ära der dunklen Politik einzuläuten, in der er sich nicht mit Gesetzen, Verfassungsrechten, Pressekonferenzen, offiziellen Meinungsstatements, Interviews und anderen Unannehmlichkeiten würde herumschlagen müssen. Der Schattenkanzler und seine Abgeordneten würden von nun an aus der Dunkelheit heraus operieren, ohne, dass die offizielle Politik dessen gewahr sein würde; freilich würden ihre Vertreter:innen früher oder später Verdacht schöpfen, doch dann würde es zu spät sein.
Wie von unsichtbarer Hand öffneten sich die eisernen Torflügel vor dem Schattenkanzler und gaben den Blick auf die dunkle Fassade und die hohen Fenster der viktorianischen Villa frei, die der Schattenkanzler und seine Abgeordnete zu ihrem neuen Hauptquartier auserkoren hatten. Er schritt durch das Tor und betrat das imposante Gebäude, in dem grau-violettes Dämmerlicht herrschte. Tiefrote Kerzen in eleganten, dunkelgoldenen Messinghaltern beleuchteten schwach den schwarz schimmernden Marmorboden, die burgunderroten Vorhänge, die schwer vor den Fenster hingen und die hohen, mit dunklem Edelholz verkleideten Wände. Zarte, silberne Spinnweben, die von der Decke und den Möbeln herabhingen, gaben dem Raum den letzten Anstrich der morbide-obskuren Aura, die der Schattenkanzler seit je her so geschätzt hatte – vor allem bei geschäftlichen Angelegenheiten.
Er ließ den Blick durch die Eingangshalle schweifen, während er die breite, mit einem roten Seidenteppich ausgelegte Treppe emporstieg, die zum Konferenzsaal im ersten Stock führte. Ja – der Schattenkanzler war wahrhaftig zufrieden mit dem Lauf der Dinge.
Seine dreizehn Abgeordneten, allesamt in schwarz gekleidet, saßen bereits um den pentagrammförmigen Tisch, als er den Saal betrat, und nickten ihm respektvoll zu, während er zu seinem Platz am Kopf des Tisches schritt und in dem großen, schwarzen Ledersessel Platz nahm. Der Schattenkanzler rückte den schon nahezu perfekt ausgerichteten Aktenordner, der vor ihm auf dem dunklen Mahagonitisch platziert worden war, um den fehlenden Millimeter zurecht, ehe er sich zurücklehnte und in die schwarze Runde blickte. „Meine Damen und Herren“, begrüßte er sein neues Kabinett mit seriös-monotoner Stimme und strich sein Sakko glatt. „Wollen wir beginnen?“